Thomas Kessler
Loyaler Derbyheld
Thomas Kesslers Karriere ist als langjährige Nummer zwei ein Gegenentwurf zu vielen anderen Torhütern: Um bei seinem Herzensverein zu bleiben, verzichtete er auf viel Einsatzzeiten. Trotzdem ist sein Ziel damals wie heute immer das gleiche – er will immer gewinnen.
Der Kaltstart, hat Thomas Kessler einmal gesagt, sei eine seiner Qualitäten. Sechs Monate hatte der gebürtige Kölner bis zum 19. November 2016 nicht gespielt. Und dann lieferte er ab – im Derby, in Gladbach. „Matchwinner“, wurde er genannt, weil er an einen Wahnsinns-Schuss von Fabian Johnson die Hand gerade noch so dran bekommen hatte. „Das sind die Dinge, die einfach geil sind, die Spaß machen. Du versaust hier in Gladbach 50.000 Zuschauern die Party. Es gibt nicht viele schönere Tage, die man als Kölner erleben kann“, sagte „Kess“, der als Kind wie sein Vorbild Bodo Illgner Torhüter beim 1. FC Köln werden wollte, und fügte hinzu: „Wenn man so will, habe ich vier Jahre auf diesen Tag hingearbeitet.“
„Ich habe eine Chance bekommen, an die ich gar nicht mehr geglaubt habe“
Nach seiner Rückkehr nach Köln im Sommer 2012 musste sich Thomas nämlich mit der Rolle als Nummer zwei begnügen. In den vier Spielzeiten vor besagtem Derby kam er nur auf sechs Einsätze bei den Profis und fünf in der Regionalliga. „Wenn du nie zum Spielen kommst, denken die Leute dann: Der erzählt viel, aber es kommt nichts bei rum. Heute wollte ich das den Leuten beweisen“, hatte Kessler nach dem Derby gesagt, das wohl das größte Spiel seiner bisherigen Karriere gewesen ist.
2000 wechselte Kess mit 14 vom SV Grün-Weiß Brauweiler zum 1. FC Köln. Von der U16 bis zur U18 spielte er sogar sechs Mal für die Nationalmannschaft, doch im ersten Seniorenjahr kam der Knick: In den ersten Regionalligaspielen sah er zwei Rote Karten, zeigte nur durchwachsene Leistungen und durfte nicht mehr bei den Amateuren auflaufen. Erst der neue Trainer Christoph Daum nahm Kess in der Winterpause mit ins Trainingslager zu den Profis – und er unterschrieb Anfang 2007 seinen ersten Vertrag, im Mai debütierte er. „Ich habe eine Chance bekommen, an die ich gar nicht mehr geglaubt habe“, sagt Kess rückblickend: „Dann habe ich die Zähne zusammengebissen und hart gearbeitet.“
Das zahlte sich aus, denn Kess war fortan Ersatztorhüter beim „Effzeh“. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus und wollte spielen, beim FC St. Pauli wurde er 2010 für eine Erstligasaison zur Nummer eins, machte 26 Spiele. Danach liehen ihn die Kölner noch ein Jahr nach Frankfurt aus, doch bei der Eintracht setzte er sich nicht durch. Als er zurückkam, setzte sein Herzensclub auf den sieben Jahre jüngeren Timo Horn. In einem Interview bezeichnete Kess seine Laufbahn als paradox: „Als ich mit 21 meinen Vertrag unterschrieb, hat man gesagt: Das beste Torwartalter kommt mit 27, 28. Als ich 27 war, hat man mir gesagt. Wenn Du jetzt 21 wärst, würdest Du spielen.“
Doch nach der Abstiegssaison 2012, als die Fahne auf Halbmast hing und die Mitarbeiter ihm mit Tränen in den Augen entgegenkamen, wuchs Thomas langsam in seine Rolle als Nummer zwei. Dass er auf der Bank sitzen würde, stimmt bildlich gesehen nur bedingt, er lebt mit, feierte zeitweise Tore „wie auf der Südtribüne“, wirkt auf die vierten Offiziellen ein und musste sich anhören, dass er sich „mit jedem anlege.“ Auf dem Feld sei er ruhiger als auf der Bank, verriet er einst: „Es ist für mich immer noch brutal schwierig zuzuschauen.“
Nach dem Derbyerfolg Ende 2016 durfte er auch endlich bei dem Verein regelmäßig spielen, den er seit Kindheitstagen liebt – 13 Bundesligaspiele in Folge, dann kehrte der verletzte Timo Horn ins Tor zurück. In jenen Partien zeigte Kess, was in ihm steckt: Dass er gut mitspielen kann und vor allem eine starke Quote in puncto abgewehrte Torschüsse vorzuweisen hatte, zeitweise eine der besten der Liga.
Die beste Nummer Zwei
Menschlich, da sind sich alle einig, ist Kess unbestritten auf Champions-League-Niveau. Er lacht viel, gilt als lustiger Typ und ist im Mannschaftsrat. Er hilft neuen und jungen Spielern, sich im unruhigen Kölner Umfeld zurechtzufinden. Wenn es sein muss, kann er Dinge aber auch klar ansprechen. Mit Frau Melanie hat er drei Kinder, studierte Sportmanagement und wenn er in den Medien auffällig wurde, dann weil er als Tim Wiese verkleidet zum Karneval ging oder auf seine Fußballschuhe die Botschaft „Keine WhatsApp nach 18 Uhr“ aufdrucken ließ. „Auch wenn ich nicht solche Spielzeiten habe, wie man es sich als Profi vorstellt – ich bin hier nie ungern zum Training gegangen“, sagte er einmal: „Man muss sich klar sein, was einem wichtiger ist.“
Drei Mal stieg er mit dem FC in die Bundesliga auf, einmal mit der Eintracht. Dazu die sensationelle Europa-League-Qualifikation: „Wenn ich mich an den ersten Aufstieg erinnere, war das wie Geburtstag, Weihnachten, Namenstag und Ostern – alles an einem Tag.“
Sein Anteil an diesen Erfolgen ist unbestritten: Kess wurde als „loyaler Ersatztorwart“, als „beste Nummer zwei“, als „Fan-Versteher“, „Tutor“ für neue Spieler und „gute Seele der Mannschaft“ beschrieben – und sportlich war auf ihn in 63 Erst- und Zweitliga sowie Pokal-Einsätzen Verlass, wenn es darauf ankam.
Zu Beginn seiner 20. Saison beim FC durfte er sogar ein ganz persönliches Jubiläum feiern: Sein 300. Spiel auf der Kölner Bank. Insgesamt „350 Kadernominierungen in der ersten Liga oder bei einem gefühlten Erstligisten“ seien eine „außergewöhnliche Zahl“, auf die Führungsspieler Kess mit allen Aufs und Abs stolz ist:
„Ich habe Jahre erlebt, in denen wir nicht aus dem Stadion gelassen wurden, weil draußen unzufriedene, wütende Fans warteten. Und ich habe Jahre erlebt, in denen ich beim Metzger und beim Bäcker alles umsonst bekommen habe, weil die vergangenen vier Wochen so überragend gelaufen sind. Ich könnte ein Buch über diese Zeit schreiben.“